Der Umweltverband BUND Hamburg gab am 11. und am 12. November 2019 bekannt: Entsprechend einem nicht im Hamburger Senat abgestimmten „Geheimpapier“ zwischen Bürgermeister Tschentscher und dem Vorstandsvorsitzenden des Industrieverbands Hamburg (IVH) Boxberger soll die Industrie einseitig bevorzugt und die Öffentlichkeitsbeteiligung bei Planungen eingeschränkt werden.
So wolle der Bürgermeister auf die politische Entscheidungshoheit bei Konflikten zwischen der Industrie und schutzbedürftigen Nutzungen verzichten und auf Bundesebene auf die Einschränkung des Verbandsklagerechts und öffentlicher Beteiligungsmöglichkeiten hinwirken.
Auf der Pressekonferenz am 12. November 2019 sagte der BUND-Geschäftsführer Manfred Braasch „Unser Eindruck ist, dass der Bürgermeister dem jahrelangen Druck auf Deregulierung und Einschränkung von Verbandsklagerechten und Öffentlichkeitsbeteiligung jetzt nachgegeben hat … und dass er auch jetzt noch kurz vor den Wahlen … Geschenke Richtung Wirtschaft macht.“
Braasch: „Diese inakzeptable und einseitige Begünstigung des Lobbyverbandes der Hamburger Industrie durch den Ersten Bürgermeister muss umgehend zurückgenommen werden. Wenn dieses Papier umgesetzt wird, diktiert die Industrielobby dem Senat für sie günstige gesetzliche Regelungen in die Feder, erhält erleichterten Zugriff auf Gewerbeflächen und braucht sich vor einer gerichtlichen Überprüfung zweifelhafter Planungen nicht mehr zu fürchten. Damit outet sich der Sozialdemokrat Tschentscher als Feind von Transparenz und Bürgerbeteiligung“
Bürgermeister Tschentscher erklärte dazu, “ dass wir sehr viel aktiver die Belange der Industrie mit einbeziehen wollen in all das, was wir als Stadt tun.“
„Das ist ein Bündnis mit der Industrie für die Industrie, aber kein Bündnis mit der Industrie für das Klima und stellt somit die Glaubwürdigkeit des Bürgermeisters beim Klimaschutz in Frage“, erklären die Grünen laut WELT vom 12.11.2019. Ein grünes Industriebündnis würde anders aussehen, auch weil die Vereinbarung zwischen Senat und Industrie kaum konkrete Maßnahmen zur Senkung des CO-Ausstoßes enthalte. Dennoch, so heißt es von den Grünen weiter, hätten sie „Schlimmeres verhindert“.
Das Handelsblatt meldete am 16.11.19, die CDU wolle auf ihrem Bundesparteitag am 22. und 23. November in Leipzig das Klagerecht von Umweltverbänden einschränken, um schnelleres Planen und Bauen von Infrastrukturprojekten zu ermöglichen.
Der „jahrelange Druck“ durch den Industrieverband Hamburg, die Landesvertretung des Bundesverbands der Deutschen Industrie e.V. (BDI), und durch andere industrienahe Lobby-Gruppen und durch Parteien wie die CDU auf den Hamburger Bürgermeister lässt sich weit zurückverfolgen:
Im Mai 2018 zitierte das Hamburger Abendblatt den Vorstandsvorsitzenden des Industrieverbands Hamburg (IVH), Matthias Boxberger: „Angesichts wichtiger Infrastrukturprojekte für Verkehr und Energie ist es notwendig, das Verbandsklagerecht zu reformieren.“
Stein des Anstoßes: Die damals noch nicht ganz durchgesetzte neunte Elbvertiefung.
► Johannes Kahrs (SPD): „Wir müssen das Verbandsklagerecht im Umweltbereich auf seine Sinnhaftigkeit überprüfen.“ „Naturschutz ist eine gute Sache, aber wie mit allen guten Dingen sollte man es damit auch nicht übertreiben.“
► Auch der Wirtschaftsrat der CDU forderte eine Beschränkung der Verbandsklage.
► Der Präsident des Unternehmensverbands Hafen Hamburg, Gunther Bonz:. „Heute ist es eine Libelle, morgen ein Marienkäfer mit dreieinhalb Punkten. Wir fordern endlich die Gesetze zu ändern.“
Der langjährige Vorgänger von Boxberger als Vorstandsvorsitzender des Industrieverbands Hamburg (IHV) war Michael Westhagemann, der von Tschentscher Ende Oktober 2018 als Hamburger Wirtschaftssenator vorgeschlagen wurde.
Im Jahr 2013, während des laufenden Volksentscheids über den Rückkauf der Hamburger Energienetze von Vattenfall, war Westhagemann Sprecher für das Aktionsbündnis „Nein zum Netzkauf“, bestehend aus 15 Kammern, Verbänden, Parteien und Vereinen, welche gegen die Rekommunalisierung der Energienetze Stimmung machten. Im Jahr des Volksentscheids sah er die Kosten einer 100-prozentigen Übernahme der Strom-, Gas- und Fernwärmenetze in keinem vernünftigen Verhältnis zu ihrem Nutzen.
Am 5. Februar 2019 hatte der Bürgermeister bei seiner Rede vor dem Übersee-Club erstmals das „Bündnis für die Industrie der Zukunft“ angekündigt und zwar ausgerechnet als Klima-Bündnis mit der Industrie.
Am 29. April 2019 wurde von Senat und Industrie das „Bündnis für die Industrie der Zukunft“ geschlossen. Es sollte Rahmenbedingungen für die Industrie in Hamburg weiter verbessern und Investitions-Hemmnisse identifizieren.
Am Tag vor dem 21. IndustrieTreff des Industrieverbands Hamburg (IVH) mit dem Ersten Bürgermeister Tschentscher am 12. Juni 2019 forderte der IVH-Vorstandsvorsitzende Matthias Boxberger: „Wir brauchen eine vorhabenorientierte Genehmigungspraxis“. Es gebe Ermessensspielräume beispielsweise bei Umweltverträglichkeitsprüfungen, die zugunsten des Antragstellers genutzt werden müssten.
Bei diesem IndustrieTreff lobte Boxberger die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Senat. Als ein Beispiel für das Engagement von Tschentscher nannte Boxberger die politische Standfestigkeit des Bürgermeisters, die Betriebszeiten am Flughafen nicht einzuschränken.
Am 15. Juli 2019 forderte der Hamburger CDU-Bundestagsabgeordnete Ploß im Hamburger Abendblatt, das Klagerecht gegen Großprojekte einzuschränken. „Eine Klage darf es dann nur geben, wenn das Projekt verfassungswidrig ist“, so Ploß. „Verbände sollen nur klagen dürfen, wenn direkt die Belange des Verbands betroffen sind“. Von der CDU-Mittelstandsvereinigung MIT erhielt er alsbaldige Unterstützung.
Am 1. Oktober 2019 meldete das Hamburger Abendblatt, Wirtschaftssenator Westhagemann wolle Großprojekte schneller realisieren und Verwaltungsabläufe in der Stadt beschleunigen. Dazu gehören für ihn auch Änderungen bei Planungen für Infrastrukturvorhaben und eine Einschränkung von Klagerechten.
Nur über eine Vereinfachung seien die Klimaziele erreichbar, so Westhagemann laut NDR 90,3.
Boxberger am 17. Oktober 2019: „Genehmigungsverfahren sind zu beschleunigen und in den Behörden sind Spielräume für eine Vorhaben orientierte Verwaltungspraxis zu nutzen.“
Am Dienstag, dem 19.11.2019, soll es beim Industrieverband Hamburg ein Frühgespräch geben. Thema: „Verbandsklagerecht in Deutschland: künftig schneller bauen?“.
Dass auch außerhalb Hamburgs Angriffe auf die Rechte der Umweltverbände bevorstehen, legte die taz am 27.12.2018 offen:
„Die Bundesländer wollen die Klagerechte von Umweltverbänden, die vor Gericht gegen umstrittene Behördenentscheidungen vorgehen, stark einschränken. Anders als bislang geregelt sollen nach diesen Vorstellungen Organisationen wie BUND, Nabu oder WWF in Zukunft nur noch Prozesse führen dürfen, wenn direkt Umweltbelange bedroht sind. Außerdem wollen die Bundesländer die Position der Kläger im Prozess durch die sogenannte „Präklusion“, dem Ausschluss von Einwänden, schwächen. Darauf soll nach einem Beschluss der 89. Justizministerkonferenz vom November, der jetzt bekannt wurde und der taz vorliegt, die Bundesregierung hinwirken.
Der Beschluss, der auf Antrag des rot-grün regierten Bremen mit Mehrheit angenommen wurde, hat zwar wenig Chancen, schnell realisiert zu werden. Aber er passt in die politische Landschaft. Derzeit werden vielfach die Rechte von Umweltverbänden in Frage gestellt.“
Pressemeldungen und -Kommentare hierzu:
taz: Bürgermeister hofiert Industrie
Morgenpost: Wirbel um „Geheimpapier“ BUND wirft Hamburger Bürgermeister Industrie-Lobbyismus vor
dpa auf hamburg.de: BUND wirft Hamburger Bürgermeister Industrie-Lobbyismus vor
Zeit: Drieschner besserwisserisch und zuverlässig wie immer gegen Umweltschutz: Peter Tschentscher: Ein Skandal, der keiner ist
Die Kritik des BUND Hamburg:
„Im Einzelnen will der Bürgermeister dem Industrieverband Hamburg (IVH) folgende Zugeständnisse machen:
- Genehmigungen beispielsweise beim Immissionsschutz werden nicht eingeschränkt, solange keine „einvernehmliche“ Lösung mit den betroffenen Unternehmen gefunden wurde. Damit schwächt der Senatschef die unabhängige und die gesetzliche Aufsichtspflicht der Verwaltung.
- Die Stadt sichert zu, sich auf Bundesratsebene für eine Novellierung des Verbandsklagerechts einzusetzen. Damit würde das rot-grün regierte Hamburg der aktuellen und höchstwahrscheinlich europarechts- und verfassungswidrigen politischen Linie von CSU-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer folgen.
- Bevor die Stadt Hamburg neue Regelungen der EU oder des Bundes in Landesrecht umsetzt, soll der „gemeinsame Umgang“ mit diesen Änderungen mit dem IHV beraten werden. Damit bekommt der IVH vor allen anderen Beteiligten und Betroffenen das Recht und die Möglichkeit, an Verordnungen und gesetzlichen Regelungen mitzuschreiben.
- Hamburg soll dem IVH 300.000 Euro für eine Imagekampagne zahlen und zusätzlich die „Drittkosten“ bei gemeinsamen Veranstaltungen übernehmen. Damit will der Bürgermeister mit Steuergeldern die PR-Arbeit eines Wirtschaftszweigs fördern, der selbst Milliardenumsätze vorweisen kann.
- Der Bürgermeister will einen „Anwalt der Industrie“ mit Mitarbeiterstab in der Wirtschaftsbehörde installieren. Diese Funktion soll der Staatsrat für Hafen, Innovation und Wirtschaft, Dr. Torsten Sevecke, zusätzlich übernehmen. Damit würde ein auf Staatskosten bezahlter Behördenchef zum verlängerten Arm von einseitigen Industrieinteressen.
- Bislang nicht genutzte Gewerbeflächen sollen „vorrangig“ für die Industrie vorgehalten und auf Kosten der Stadt erschlossen werden. Damit wird die Möglichkeit, solche Brachflächen für das Grüne Netz Hamburg, eine verantwortungsbewusste Nachverdichtung im Wohnungsbau oder für die Naherholung zu nutzen, faktisch unmöglich.
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