Senator Kerstan kündigt einen Ersatz des Heizkraftwerks Wedel mit 55 % erneuerbarer Wärme an. Dieser Anteil wird aber nur deshalb erreicht, weil Kerstan die CO2-Emissionen der Müllverbrennung leugnet.
Es ist unstrittig, dass bei der Verbrennung von Müll – Hausmüll oder Industriemüll – viel klimaschädliches CO2 ausgestoßen wird. Man denke nur an all die Plastik-Verpackungen, die aus fossilen Erdöl-Derivaten hergestellt werden und meist im Müll landen.
Für die CO2-Bilanzierung hat sich der Länderarbeitskreis (LAK) Energiebilanzen schon vor langer Zeit darauf verständigt, dass eine Hälfte des bei der Müllverbrennung ausgestoßenen CO2 fossilen Quellen zugerechnet wird und die andere Hälfte erneuerbaren Quellen. Schließlich sind im Müll nicht nur Produkte fossilen Ursprungs, sondern auch Holz- und Pflanzen-Reststoffe, Papier und Ähnliches enthalten und viel davon wird noch immer verbrannt. Das Verhältnis 50 : 50 wurde aus pragmatischen Gründen zur Vereinfachung der Bilanzierung gewählt. Wahrscheinlich wird bei den Hamburger Müllverbrennungsanlagen der fossile Anteil in Zukunft sogar größer als 50 Prozent sein.
Während sich Vattenfall bei der CO2-Bilanzierung an diese Regelung hielt, kamen Juristen der Behörde für Umwelt und Energie (BUE) auf die Idee, sich einem Vorschlag der Lobby-Organisation AGFW der Fernwärmeerzeuger anzuschließen (Energieeffizienzverband für Wärme, Kälte und KWK). Nach diesem Vorschlag wäre fast die gesamte bei der Müllverbrennung gewonnene Wärme klimaneutral. Umweltsenator Kerstan von den Grünen ließ seine Beamten gewähren. Kann er damit doch mit höheren CO2-Reduktionen punkten. Denn in Hamburg wird ein erheblicher Teil der Fernwärme aus Müllverbrennung gewonnen.
Bei der Veranstaltung der Bürgerinitiative „Keine Elbtrasse!“ am 16. September 2019 über Sinn und Notwendigkeit der von der BUE geplanten Elbtrasse wurde Senator Kerstan wegen dieser CO2-Leugnung von Prof. Rabenstein (HCU) scharf kritisiert.
Senator Kerstans Rechtfertigung im Wortlaut:
„Also, die Müllverbrennungsanlage Rugenberger Damm läuft bereinigt und hat CO2-Ausstoß und die Wärme wird für die Fernwärme nicht genutzt.“
Tatsächlich wird sehr wohl ein kleiner Teil als Fernwärme genutzt und zwar für ein kleineres Fernwärmenetz von Hansewerk Natur (Verbund Südwest). Der Dampf, den die Müllverbrennungsanlage Rugenberger Damm (MVR) erzeugt, wird aber seit Längerem hauptsächlich von den nahegelegenen Ölwerken Schindler eingesetzt. Dass die erzeugte Wärme verpufft, wie Senator Kerstan gleich behaupten wird, ist also nicht richtig. Durch Investitionen in die Effizienz der MVR könnte in Zukunft aber mehr Nutzenergie aus der Müllverbrennung herausgeholt werden. Diesen Investitionen müsste allerdings auch der Miteigner Vattenfall zustimmen.
Senator Kerstan weiter: „Und was wir jetzt machen, die Wärme verpufft. Und darum hängen wir, und darum hängen wir am Ende jetzt eine Rauchgaswärme, also ne Wärmepumpe in die Rauchgasanlage und entziehen diesem, diesem Kraft, na Kraftwerk ist es ja nicht, dieser Anlage, die sowieso läuft, eben Wärme, um sie für zur Beheizung von Wohnungen zu verwenden. D. h. es entsteht dort kein zusätzliches CO2. Und darum hab ich ja auch die Unterscheidung gemacht, dass wir erneuerbare Quellen anschließen und vorhandene Abwärme nutzen. Und wenn man vorhandene Abwärme nutzt, dann ist die in der Produktion nicht CO2-neutral selber sein. Aber in dem Moment, wo man nicht genutzte Wärme nutzt, dann entsteht dort nen Zusatznutzen, der eben klimaneutral ist. Sonst müsste man dafür eben eine andere Anlage bauen, die dann eben zusätzlich CO2 ausstößt. Und in dem Vergleich ist sie eben klimaneutral.“
Auf diese Äußerungen von Senator Kerstan werden wir weiter unten noch zurückkommen. Schon hier sei aber darauf hingewiesen, dass Kerstan die Müllverbrennungsanlage nicht als „Kraftwerk“ bezeichnen möchte, obwohl durch Zuführung von Brennstoff viel Wärme und wenig Strom erzeugt wird, sondern nur als „Anlage“.
Senator Kerstan weiter: „Und ich will es einmal nur noch sammeln, also der Fachverband der Fernwärme, und das gilt für ganz Deutschland, berechnet Fernwärme, das ist die sogenannte AGFW-Methode, die haben wir hier in Hamburg nicht erfunden, die Fernwärme als klimaneutral. Aber nichtsdestotrotz, da in dem Punkt gebe ich Herrn Rabenstein recht. In der Klimabilanz der Freien und Hansestadt Hamburg ist Ham, eh, eh ist Müllwärme per se mit lediglich 50 Prozent erneuerbar, also wird sie nur mit 50 Prozent erneuerbarem CO2 frei. Jetzt muss man bei der Klimabilanz noch sagen, das ist jetzt eine relativ komplizierte Geschichte, die hat, dagegen die Wärme geht ein und die Wärme, die will dem gesunden Menschenverstand widersprechen, geht nicht ein.“
Ja, die „AGFW-Methode“ zur Bestimmung von spezifischen CO2-Emissionsfaktoren ist tatsächlich „eine relativ komplizierte Geschichte“.
Was hat ein Politiker im Rhetorik-Kurs gelernt für den Fall, dass er sich bei einer Geschichte schwertut? Er wechselt das Thema und weicht auf eine Fragestellung aus, bei der er mit der Zustimmung seiner ZuhörerInnen rechnen kann.
Senator Kerstan: „Also in meiner Klimabilanz, die ich für Hamburg hab, die da zusammen mit dem Statistik Amt Nord erstellt, geht der Schiffsverkehr mit keinem einzigen Gramm CO2 ein. Ich finde die, der Flughafen Hamburg geht nur mit den Flügen ein, die von Hamburg abfliegen. Da wird nämlich nur das getankte Kerosin berücksichtigt. Es weiß glaube jeder, dass wenn so‘ n Flugzeug landet es auch CO2 also Treibstoffe verbrennt usw. taucht nicht ein, taucht es geht nicht in die Bilanz ein. Wir werden trotzdem in unserem Klimaplan Maßnahmen ergreifen, um den CO2-Ausstoß aus der Schifffahrt zu verringern und auch den CO2-Ausstoß des Flughafens, dass wir die Klimabilanz Hamburgs, so wie sie offiziell erhoben wird, in keinster Weise verändern. Das Kohlekraftwerk Moorburg, das über das gesprochen wird, als es ans Netz gegangen ist, hat sich die Klimabilanz Hamburgs nicht verschlechtert, weil’s eben als Stromproduktion für die ganze Bundesrepublik bilanziert wird. Also insofern darf man hier kaum diese Klimabilanzierung jetzt nicht mit den realen CO2-Ausstößen vergleichen.“
Dass in der Treibhausgas-Verursacherbilanz Hamburgs der Ausstoß von Treibhausgasen durch den Flugverkehr und den Schiffsverkehr bei weitem nicht ausreichend berücksichtigt wird, das wird schon in dem von den Grünen in Auftrag gegebenen „Basisgutachten“ aus dem Jahr 2010 thematisiert. Senator Kerstan hat sich jedoch während seiner gesamten Amtszeit von mehr als vier Jahren damit zufriedengegeben. Seine Ausführungen beklagen zwar diesen Zustand, lassen aber keine Vorhaben zur Verbesserung der Bilanzierung selbst erkennen. Was er daraus folgert, ist, dass man „also insofern … hier kaum diese Klimabilanzierung jetzt nicht mit den realen CO2-Ausstößen vergleichen (darf).“ Unzureichendes wird somit als Rechtfertigung dafür genommen, die Treibhausgas-Bilanzierung noch unzureichender zu machen und damit weitere Abweichungen von den realen CO2-Ausstößen zu begründen?
Senator Kerstan weiter: „Und das muss man aber machen, wenn man neue Anlagen baut. Baue ich jetzt ne neue Anlage oder nutzte ich ne vorhandene? Und vor dem Hintergrund ist eine vorhandene Anlage eben insofern CO2-neutral, dass durch die Auskopplung der Wärme kein zusätzliches CO2 entsteht. Die Alternative wäre eine neue Anlage, die würde zusätzliches CO2 produzieren und das im Prinzip, das ist die sogenannte AGFW-Methode beim Müll …“
Den Fachbeauftragten der AGFW-Lobby müsste hier das Grausen kommen.
Aber langsam: Senator Kerstan unterscheidet also zwischen neuen und vorhandenen Müllverbrennungsanlagen. Gut ein Viertel der Ersatz-Wärme für das alte Steinkohle-Heizkraftwerk Wedel soll aus dem im Stellinger Moor geplanten Zentrum für Ressourcen und Energie (ZRE) kommen. In dieser neuen Anlage soll viel Müll verbrannt werden. Sie ersetzt ja auch eine Müllverbrennungsanlage am gleichen Ort. Für diese Anlage würde Kerstan also die 50 : 50 Regel gelten lassen?
Nein. Da ist ihm das von ihm propagierte Fernwärmekonzept „Energiepark Hafen“ wirklich schlecht erklärt worden. Niemals käme die Marke 55 % erneuerbare Wärme für dieses Konzept zusammen, wenn nicht auch die Wärme aus der neuen Müllverbrennungsanlage wie alle andere als fast klimaneutral bewertet werden würde.
Ohnehin kämen höchst schwierige Folgefragen auf Senator Kerstan zu:
- Wann würde eine Müllverbrennungsanlage vom Status „neu“ in den Status „vorhanden“ wechseln? Erst wenn sie abgeschrieben ist?
- Und was ist, wenn die Effizienz einer vorhandenen Müllverbrennungsanlage durch Investitionen verbessert wird? Braucht man dann irgendwelche Mittelwege für halb vorhanden und halb neu?
Hier kommen wir auf die von Senator Kerstan angesprochene Verbesserung der Effizienz der MVR durch eine Rauchgas-Wärmepumpe zurück. Nach seiner Unterscheidung in „vorhanden“ und „neu“ müsste doch gerade die durch Effizienz-Investitionen gewonnene zusätzliche Wärme mit 50 : 50 bilanziert werden – oder etwa nicht?
Offensichtlich eine Kette von Widersprüchen. Und das alles nur, um das BUE-Projekt „Energiepark Hafen“ aufzuhübschen. Mit dem Segen einer grün geführten Umweltbehörde!
Wie sieht denn nun die tatsächliche Argumentation der AGFW-Fernwärme-Lobby aus?
Auf diese nimmt eine von BUE-Mitarbeitern ausgearbeitete lange Stellungnahme in der Großen Anfrage der LINKEN Bezug (Antwort Nr. 12 in Drs. 21/17901, 23.8.2019). Interessanterweise wird hier von Vorgaben des AGFW gesprochen:
„Im Rahmen der Kraftwerksersatzplanung wurde Wärme aus Müllverbrennung nach den Vorgaben der Arbeitsgemeinschaft für Wärme und Heizkraftwirtschaft (AGFW) bewertet.“
Die Hamburger Umweltbehörde folgt also Vorgaben der Fernwärme-Lobby AGFW!
Die zentrale Argumentation des AGFW, der die BUE folgt, wird in Drs. 21/17901 so formuliert:
„Die bei der Müllverbrennung anfallenden CO2-Emissionen werden vollständig der Müllentsorgung zugerechnet.“
Der AGFW argumentiert, der Brennstoff Müll sei CO2-frei, weil die bei der Verbrennung von Müll freigesetzten CO2-Emissionen „vorgelagerten Wertschöpfungsstufen“ zuzuschlagen seien.
(Für Senator Kerstan: Ohne Unterscheidung zwischen „vorhanden“ und „neu“ oder sonst etwas.)
Die Müllwärme wäre also fast klimaneutral, da die für die Müllentsorgung zuständige Stadtreinigung Hamburg die „vorgelagerten Wertschöpfungsstufen“ vornimmt und somit diese CO2-Emissionen bereits in der eigenen Treibhausgas-Bilanz aufführen müsste?
In der Emissionsbilanz der Stadtreinigung Hamburg sucht man vergebens nach solchen CO2-Emissionsbilanz-Posten. Sie wären auch völlig unüblich. Der AGFW müsste einmal angeben, welche Müllentsorger eine solche CO2-Bilanzierung vornehmen. Man darf gespannt sein.
Die aufgeworfenen Fragen sind nicht nur von bilanzrechnerischem Interesse und bedenklich wegen der interessengeleiteten Auslagerung von klimaschädlichen Emissionen. Es werden auch Fragen des lauteren Wettbewerbs (nach UWG) aufgeworfen, da sich die Hamburger Fernwärme auf diese Weise offensichtlich Vorteile gegenüber Mitbewerbern verschaffen würde, die keine Müllwärme einsetzen (können).
Die BUE hat sich bereits tief in diese Schönrechnerei mit CO2-Leugnung verstrickt. In der Empfehlung des ENB vom 18. April 2019 an die BUE wurde darauf hingewiesen, dass die BUE Senat und Bürgerschaft zu den CO2-Emissionen falsch unterrichtet hat und dass das korrigiert werden muss. Die CO2-Einsparungen beim Ersatz des HKW Wedel sind also beträchtlich kleiner als in PR-Darstellungen der BUE angegeben. Werden Senat und Bürgerschaft diese Falschinformation hinnehmen?
Natürlich fällt einer Behörde eine Korrektur außerordentlich schwer. Aber noch schlimmer wäre ein weiterer Verlust der ohnehin durch die zahlreichen Mängel des Projekts „Energiepark Hafen“ wankenden Glaubwürdigkeit der Hamburger Umweltbehörde.
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